Für die Europawahlen im Mai 2019 tritt Sven Giegold zusammen mit Ska Keller als Spitzenkandidat für die deutschen GRÜNEN an

Grüne konnten in Europa viele Erfolge erreichen

Interview mit Sven Giegold. Er ist seit 2009 im Europäischen Parlament und Sprecher der Abgeordneten von Bündnis 90/Die Grünen sowie finanz- und wirtschafts­politischer Sprecher der Fraktion Die Grünen/Europäische Freie Allianz im Europäischen Parlament (Grüne/EFA).

Grüne Post: Lieber Sven, Du bist jetzt seit fast 10 Jahren für die Deutschen Grünen im Europaparlament. Worin siehst Du die größten Erfolge der Ar­beit Eurer grünen Fraktion? Und wo gab es Niederlagen?

Sven Giegold: Einer meiner größten Glücksmomente in letzter Zeit war die vorläufige Rettung des Hambacher Walds. Es war eine Gerichtsent­schei­dung auf Grundlage der Europäischen Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie, die die größte NRW-Population der Bech­stein­fledermaus und damit den Wald vorerst gerettet hat.

Aber was haben wir in dieser Legislatur selbst zu EU-Gesetzen werden las­sen? Durch unse­re Arbeit mit Bienen­schützern und Um­weltgruppen haben wir ein fast kom­plettes Verbot von bienentötenden Pestiziden, den Neoniko­tinoiden, durch­gesetzt.

Angesichts der großen Gefahr für Men­schen mit schwa­chem Immun­sy­stem durch im­mer mehr multi­resistente Keime haben wir Grüne uns mit Tier­ärzten, Umwelt- und Tierschüt­zern ge­gen die unangemessene Nut­zung von Anti­biotika in der industriellen Land­wirt­schaft eingesetzt. Wir haben eine Par­lamentsmehrheit dafür gewon­nen, dem routinierten Einsatz von Antibio­tika bei der Tierfütterung ein Ende zu machen.

Nach Berichten von Tiertransporten unter schrecklichen Bedingungen und unter Bruch europäischen Rechts wol­len wir einen Untersuchungs­aus­schuss des Parlaments einsetzen. Die großen Frak­tionen haben darüber nicht mal eine Abstimmung zugelassen. Da­gegen ziehen wir jetzt vor Gericht, um unser demokratisches Recht auf eine Abstim­mung durchzusetzen.

Das Pariser Klimaabkommen zur Ver­hinderung eines irreparablen Klima­wandels war ein großer Erfolg europä­ischer Diplomatie.

Es war ein Grüner Erfolg im Parlament, dass die EU sich verpflichtet hat, 2030 ein Drittel ihrer Energie aus Erneu­erbaren Quellen zu beziehen. Wir haben durchgesetzt, dass Palmöl als Biokraft­stoff ausläuft und schwere Laster und Transportfahrzeuge euro­pa­weit strikten CO2-Grenzwerten un­terliegen, was zu starken Senkungen der Emissionen aus dem Güterverkehr führen wird.

Für bessere Mobilität hat unser Ver­kehrsexperte Michael Cramer durch­gesetzt, dass auch in Hochgeschwin­digkeitszügen wie ICEs künftig Abteile zum Mitnehmen des Fahrrads sein werden. Das gleiche EU-Gesetz hat auch die Fahrgastrechte gestärkt und sorgt für höhere Entschädigung bei Verspätung und volle Rechte, wenn man mit mehreren Anbietern zum Beispiel grenzüberschreitend unter­wegs ist.

Auch im sozialen Bereich hat Europa – entgegen seines Rufes – sehr viel er­reicht. Dass Frauen in vielen Berei­chen mehr Gleichberechtigung in den Mit­gliedsstaaten bekommen haben, lag an Europa. Und dass Millionen von Ost-Europäerinnen und Ost-Europäern Chan­cen bekommen haben in Europa, das haben wir durch die Europäische Union geschafft. Europa hat auch jetzt schon eine soziale Dimension. In dieser Legislatur haben wir in der Ent­senderichtlinie für mehr Fairness und höhere Standards EU-weit gesorgt. Die von uns durchgekämpfte Änderung sichert mobilen Arbeitskräften nicht nur den vor Ort geltenden Mindestlohn, son­dern auch die oft noch höhere orts­übliche Bezahlung. Wir haben einen Fonds für die Transition zu einer klimafreundlicheren Wirtschaft durch­gesetzt, der Sektoren und Regionen helfen soll, nachhaltige Jobs für die Zukunft zu schaffen.

Steueroasen geschlossen

In den letzten fünf Jahren haben wir in keinem Bereich im Europaparlament mehr erreicht, als bei der Schließung der Steueroasen. Wir haben eine Schlüs­selrolle gespielt, indem wir nach den Luxembourg Leaks und den Pa­nama Leaks mehrere Untersu­chungs­aus­schüsse initiiert haben. Diese Unter­suchungsausschüsse haben aus dem öffentlichen Aufschrei Druck gegen Steuervermeidung und Geld­wäsche wachsen lassen. Ein vernich­tender Be­richt über das Steuerver­meidungs­modell von IKEA im Auftrag der Grünen belegte über eine Milliarde vermiedener Steuern. Im Anschluss leitete die EU-Kommission eine genaue Prüfung der Konstrukte der Firma ein. Inzwischen konnten wir eine Pflicht für Steue­rberater einführen, alle ihre grenz­überschreitenden Steuerver­mei­dungs­modelle zu veröffentlichen.

Wichtige Beschlüsse des Europa­parla­ments werden allerdings im Rat der Mitgliedstaaten ausgebremst. Zum Bei­spiel für eine länderbezogene Bericht­erstattung von Großkonzernen, in der sie angeben müssten, was sie wo ver­dienen und wie viel Steuern sie darauf jeweils zahlen. Hier bremst, wie viel zu oft, die Bundesregierung europäischen Fortschritt aus.

Grüne Post: Gerade in den letzten Jahren haben nationalistische und rech­te Bestrebungen in vielen Ländern Euro­pas zugenommen. Wie wirkt sich das auf Deine und die Arbeit der anderen grünen Abgeordneten aus?

Europa zeigt Stärke

Sven Giegold: Die Gegner eines ge­meinsam starken Europas wie Viktor Orban in Ungarn, Jarosław Kaczyński in Polen und inzwischen auch Matteo Salvini in Italien kritisieren Europa für fehlende Antworten, bieten aber nur Scheinlösungen. Im Parlament blok­kieren die Abgeordneten dieser Par­teien meistens europäische Lösungen. Einzelne Länder können grenzüber­schrei­tende Probleme nicht alleine lösen, weder bei Migration, noch bei Klima oder Steuergerechtigkeit. Ein Europa, in dem nationale Grenzen wieder hochgezogen werden, würde gemeinsame Lebens­räume trennen, Pendler*innen im Stau stehen lassen und den Verkehr von Waren unter­binden. Das wäre nicht nur für die Menschen in den Grenzregionen, son­dern für ganz Europa fatal. Zuletzt hat Europa aber Stärke gezeigt. Die EU-Institutionen haben gezeigt, dass europäisches Recht stärker ist als die Rechten, die es zum eigenen Vorteil brechen wollen. Die polnische Regie­rung von Kaczyńskis PiS hat sich dem Europäischen Gerichtshof gebeugt und die Entmachtung höchster Richter zu­rückgenommen. Matteo Salvini musste vorerst im Streit um das italienische Budget gegenüber der EU-Kommission nachgeben. Und das Europäische Par­lament hat mit großer Mehrheit für den Bericht meiner nie­derländischen Grünen Kollegin Judith Sargentini gestimmt, der den Verfall von Rechtsstaatlichkeit und Demo­kratie in Ungarn offenlegt. In einem Konsens der Demokraten war dies die historische Entscheidung, erst­mals vom Parlament aus ein Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags gegen die ungarische Regierung einzuleiten. Das Verfahren kann bis zum Entzug des Stimmrechts Ungarns im Rat führen. Die EU-Kommission prüft außerdem Folgen für den Bezug von EU-För­dermitteln. Das Parlament fordert als Präven­tions­maßnahme, dass in Zu­kunft nationale Regierungen, die europäische Grund­werte untergraben, nicht mehr von EU-Geldern profitieren dürfen. Das zielt auch auf Regierungen wie die in Rumänien. Dort haben Sozialdemo­kraten und Liberale gerade die Leiterin der bis dahin erfolgreichen Anti-Korrup­tionsbehörde entmachtet und arbeiten an der Entschärfung von Anti-Korrup­tions­gesetzen. Als Grüne werden wir an der Seite der tausenden EU-Bürger stehen, die in Rumänien, Ungarn, Polen und andernorts auf die Straße gehen. Wir konnten mit Druck auf die EU-Kommission einen EU-Gesetzes­vor­schlag für Mindestschutz­regeln für Whistleblower erreichen, die zur Auf­deckung von Korruption meist entschei­dende Hinweise liefern. Unse­re Fraktion hat erfolgreich ein Pilo­tprojekt zur Förderung investigativer Journalisten mit 500.000 EUR durch­gesetzt. Wir wollen die neue Euro­päische Staats­anwaltschaft ausbauen, damit Miss­brauche von EU-Mitteln auch dort ver­folgt werden kann wo autoritäre Regie­rungen ihre Freunde und Unterstützer vor der Justiz ab­schirmen wollen.

Grüne Post: Das wir in Europa seit über 70 Jahren in Frieden leben dürfen ist sicher einer der großen Erfolge der europäischen Einigung. Leider wird das von vielen Bürgern derzeit als selbst­verständlich angesehen. Was müßte die EU und das Europa­par­lament tun, um wieder mehr Menschen von der euro­päischen Idee zu begei­stern?

Sven Giegold: In Deutschland wird oft gedacht: Europa bedeutet, Deutsch­land zahlt und alle anderen halten sich nicht an die Regeln. Im Rest der EU denkt man allerdings oft Europa be­deute, dass zwar alle zu Europa gehören, aber Deutschland zuerst profitiert. Beides ist falsch. Wir alle machen in Europa Kompromisse zu unserem gemeinsa­men Glück. Aber vor allem: Ohne Europa stünden wir alle so ungleich schlechter und ärmer da. Fakt ist aber auch: Deutschland ist nicht Opfer, son­dern größter Gewinner der europä­ischen Einigung. Das sollten wir gerade hier in Deutschland immer im Kopf behalten. Allen, die im Wahlkampf das Lied vom Zahlmeister Deutschland an­stimmen, werden wir mit der Ode an die Freude antworten. In diesem Wahl­kampf sollten wir allen in Deutschland eine Stimme geben, die wissen, was wir alle an Europa haben. Und damit sprechen wir für die große Mehrheit!

Wir sollten eines unmissverständlich klar machen: Europa bedeutet euro­päische Solidarität, nicht nationales Saldo! Europa bedeutet miteinander, nicht gegeneinander! Europa bedeutet Stärke durch Zusammenhalt, nicht Schwä­che durch Spaltung! Europa be­deutet Freiheit, nicht Festung! Europa bedeutet Zukunft, und Nationalismus bedeutet Vergangenheit!

Grüne Post: Was sind Deine per­sön­lichen Ziele für die nächste Legis­latur­periode?

Sven Giegold: Mein alter Traum ist, dass auch die Vermögenden und die großen Unternehmen in der Globa­lisierung ihre Steuern zahlen müssen, dass der Rechtsstaat also für alle gilt. Den werden wir durchsetzen in Europa. Ich werde nicht Ruhe geben, bevor die Steuern nicht da bezahlt werden, wo die Gewinne erwirtschaftet wurden.

Mein persönlichstes Anliegen

Aber ich habe ein noch persönlicheres Anliegen. Mein kleiner Sohn leidet an Kreidezähnen. Ihm bröckelten Zähne weg, sobald sie aus dem Kiefer kamen. Das liegt nach Meinung führender Zahnmediziner an Bisphenol-A und Chemikalien-Bela­stung. Bis zu 30% der kleinen Kinder haben in Deutsch­land inzwischen Kreidezähne. Europa hat bei der Chemikalien-Regulierung Standards gesetzt. Nirgendwo sonst gibt es eine so strenge Regulierung und Registrierung von Chemikalien. Und daran hatten wir Grüne erheb­lichen Anteil! Aber was wir bisher geschafft haben, reicht nicht. Ich will mich in den nächsten fünf Jahren mit der Chemie-Lobby anlegen, damit die giftigen und hormonverändernden Che­mi­kalien endlich aus dem Alltag verschwinden. Das sind wir Grüne der Gesundheit und auch der zukunfts­fähigen Chemie schuldig. Wir wollen innovative Jobs in dem Teil der Che­mie-Wirtschaft, der sich verantwortlich ver­hält. Genauso, wie wir die inno­vativen Jobs im Klimaschutz wollen. Wir sind als Grüne dieses Engagement auch unse­rer aller Gesundheit schul­dig. Und ich persönlich bin das meinem kleinen Sohn schuldig.

Grüne Post: Herzlichen Dank für dieses Gespräch und viel Erfolg bei der Euro­pawahl!

Das Interview führte Ursula Pfäfflin Nefian